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100km durch die Wüste - ein echtes Abenteuer!

Achtung Gänsehautgefahr - ein Bericht aus der Ich-Perspektive der Läuferin Andrea Löw:
Ich hatte mir vorgenommen, einfach die ganze Zeit glücklich und dankbar dafür zu sein, dass ich in diesem unguten Jahr 2020 wider Erwarten doch noch in die Wüste und dort laufen darf. Soweit die Theorie. In der Praxis habe ich gelitten, geflucht und geschrien – und war dann doch so irrsinnig glücklich, ins Ziel zu laufen bei der vierten Ausgabe des Ultra Mirage El Djerid.
Zwei Tage vor dem Rennen kommen wir in der Oasenstadt Tozeur an. Das Race Briefing findet dieses Jahr nur virtuell statt, die Startnummernausgabe wird in strengen Zeitfenstern und mit viel Abstand durchgeführt. Da es in diesem Jahr nicht gestattet ist, dass der Veranstalter an den Checkpoints Lebensmittel ausgibt, bekommen wir einen großen Sack mit allerlei Keksen und Kuchen, zahlreichen Dattelriegeln und – wir sind schließlich in einer Stadt, die genau dafür berühmt ist – ein Kilogramm Datteln. Ein. Kilogramm. Datteln!
Und los gehts...
Am Renntag klingelt um 4 Uhr der Wecker, um 5 Uhr geht es los in Richtung Nefta, zur berühmten Star Wars-Kulisse mitten in der Wüste. Immer 25 Läuferinnen und Läufer dürfen gemeinsam starten, werden mit Abstand im Startblock platziert. Die Maske darf erst abgenommen werden, nachdem wir die Startlinie überquert haben.
Ich bin aufgeregt, auch etwas unsicher, schließlich bin ich angesichts all der ausgefallenen Wettkämpfe bei weitem nicht so gut vorbereitet wie im Vorjahr. Aber diese Ungewissheit gehört bei einem derartigen Laufabenteuer dazu, so viel kann passieren bei einem Lauf, der einer Reise ähnelt. Für mich sollte es eine weite Reise werden bzw. eine Reise, die lange gedauert hat.
Dann geht es los, von zehn heruntergezählt und ab in die Wüste. Meine Lauffreundin Judith, die dieses Rennen heute gewinnen wird, sprintet gemeinsam mit der Vorjahressiegerin Bouchra vorneweg, eine kleine Weile sehe ich die beiden noch, dann sind sie im Morgenlicht der Wüste verschwunden. Ich trabe langsam vor mich hin, weiß, dass es für mich heute vor allem darauf ankommen wird, mir die Kräfte einzuteilen.
Zwar bin ich überglücklich, hier zu sein, in der Sahara laufen zu dürfen, doch sehr schnell merke ich, dass das hier heute ein ziemlicher Kampf wird.Bei Kilometer 50 ist ein größerer Checkpoint, an unsere Dropbags liegen. Beim Betreten der Checkpoints müssen wir den MNS aufsetzen und unsere Hände desinfizieren, dann können wir uns einen Platz suchen, um etwas auszuruhen, uns zu verpflegen und in diesem Fall auch die Verpflegung für die zweite Rennhälfte und die Stirnlampe in den Laufrucksack zu packen.
Nun wird es 15 Kilometer lang richtig fies. Dünen mit tiefem, lockeren Sand, in den ich bei jedem Schritt einsinke, dazu der Gegenwind, der immer stärker wird, mir den Sand ins Gesicht bläst und vor allem die Anstrengung, vorwärts zu kommen, immens vergrößert. Ich fluche. Ich schreie.
Bei Kilometer 60 überqueren wir eine Straße, hier steht wieder ein Jeep, der uns mit zusätzlichem Wasser versorgt. Ich nutze die Gelegenheit, um meine Schuhe zu entsanden. Schwerfällig stehe ich wieder auf, mache dabei offenbar eine unglückliche Bewegung – und zack, tut es weh. Mein rechtes hinteres Bein schmerzt, es zieht in der Kniekehle, ich kann kaum auftreten. Panik! Wenn ich in den Tempo weiter durch den Sand humple, dann kann ich ein Finish vergessen. 40 Kilometer sind lang, wenn man gar nicht von der Stelle kommt.
Ist das Rennen vorbei?
Tränen schießen mir in die Augen. Das kann es doch jetzt nicht gewesen sein??? Muss ich beim nächsten Checkpoint aus dem Rennen? Ich will das nicht. Ich werde wütend und schreie mich an. Ich will dieses Rennen hier finishen, ich hatte mir vorgenommen, so dankbar zu sein, hier sein zu dürfen, und nun jammere ich rum. Ich rede mit mir selbst, überzeuge mich davon, wie wichtig es mir ist, hier und heute in der Wüste ins Ziel zu kommen. Nach einigen Minuten lässt der Schmerz im Bein nach. Er wird in den nächsten Stunden immer dann zurückkehren, wenn ich kurz gesessen habe, aber nach einer Weile erträglich sein. Das weiß ich jetzt noch nicht, aber halbwegs erleichtert trabe ich weiter.
Am Checkpoint setze ich mich erschöpft hin und schaue offenbar nicht besonders glücklich in die Gegend. Eine supernette Helferin umsorgt mich, redet auf mich ein, dass ich nun schon so weit bin, dass ich den Rest jetzt auch noch schaffe. Viele seien schon ausgestiegen, die Bedingungen seien irre hart heute, aber ich habe noch genügend Zeit, ich schaffe das. Sagt sie. Ich nicke, setze meine Stirnlampe auf den Kopf, ein Helfer befestigt den nun aus Sicherheitsgründen notwendigen Leuchtstab hinten an meinem Rucksack, dann setze ich mich schwerfällig wieder in Bewegung, laufe in die beginnende Dämmerung. Die ersten Schritte schmerzen, dann wird es besser.
Mehrere Blasen machen mir nun zu schaffen, aber das kenne ich, da muss ich jetzt durch. Drei Kilometer noch durch den Sand, dann kommen zwölf Kilometer auf einer Straße. In einer Mischung aus marschieren und laufen komme ich weiter. Eine Blase platzt auf, dann noch eine. Egal, weiter! Irgendwann geht es wieder von der Straße ab, es wird wieder sandig, ich sinke ein, fluche, habe aber bald den letzten Checkpoint bei Kilometer 80 erreicht. Wieder setze ich mich, schütte Sand aus Schuhen und Strümpfen, ignoriere ansonsten meine Füße, esse ein paar Datteln.
Auf in den "Endspurt"!
Die ersten paar Meter nach dem Aufstehen sind wieder schlimm, ich humple los, auf in den „Endspurt“. Lustiges Wort für das, was ich da jetzt mache… Ich erinnere mich gut daran, wie sehr sich diese letzten 20 Kilometer ziehen, inzwischen ist auch klar, dass ich langsamer sein werde als 2019. Aber ich werde es schaffen, davon bin ich nun, anders als noch 20 Kilometer früher, überzeugt. Es tut weh, es ist hart, aber ich rede mit mir selbst, sage mir immer wieder, dass es doch besser ist, jetzt ein paar Stunden vor mir zu haben, die richtig hart sind, statt mich die nächsten Wochen oder Monate immer wieder über mich selbst zu ärgern, weil ich aufgegeben habe.
Ich denke an THE TRACK, ein 520-Kilometer-Etappenrennen in Australien, stelle mir vor, wie ich in diesem Rennen im Mai 2019 scheinbar endlos durch das Outback gelaufen bin, und wie ich es geschafft habe. Ich denke an all die Läufe, bei denen ich vermutlich ähnlich gelitten habe wie jetzt. Aber mit der Erinnerung ist das ja so eine Sache: Du weißt zwar noch, dass es weh tat, dass du kämpfen musstest, aber die damit verbundenen Empfindungen verblassen mit der Zeit. Die vielen grandiosen Erinnerungen an diese Rennen, die haben dagegen Bestand. Also musste ich schon mal so kämpfen wie jetzt und habe es geschafft, mehrfach sogar. Das sage ich mir jetzt in dieser schwierigen Phase. Rede auf mich ein, stelle mir wieder und wieder den Zieleinlauf vor, stelle mir vor, wie glücklich ich sehr bald sein werde, wenn ich es geschafft habe. Der Kopf trägt den Körper ins Ziel, anders geht es jetzt nicht mehr.
Da! In der Ferne sehe ich Licht, höre Geräusche. Das Ziel, das muss es sein. Meine Uhr zeigt schon 105 Kilometer, ich will jetzt auch bitte, bitte wirklich, dass das Ziel jetzt da ist. Ich sehe Lichter, Stirnlampen, höre jemand rufen und ankündigen, dass wieder ein Finisher kommt. Das bin ich! Ich bin die angekündigte Finisherin! Ich sehe das Ziel, laufe noch einmal so schnell, wie meine Füße das zulassen und laufe nach 18 Stunden und 31 Minuten durch den gelben Start- und Zielbogen, an dem am Morgen meine lange Reise durch die tunesische Sahara begonnen hat.
Amir, der Renndirektor, gibt mir meine Medaille, gratuliert mir und berichtet, dass viele Läuferinnen und Läufer ausgestiegen sind, da die Bedingungen durch den Wind, der teilweise zum Sandsturm mutierte, so hart waren. In den nächsten anderthalb Stunden bis zum Cut Off kommen aber noch einige ins Ziel, am Ende finishen von 112 Startern 86 dieses harte 100-Kilometer-Rennen. Ich bin auf Platz 59 und als 12. Frau ins Ziel gekommen. Ich bin erschöpft. Und ich bin glücklich.